Feuer im Tessin
Stundenlang saßen sie sich gegenüber, Vater und Tochter. Die Bahnfahrt schien unendlich und der Gotthardtunnel glich einem Lindwurm aus Dunkelheit.
Ariane freute sich auf den Urlaub mit ihrem Vater, aber weniger über seine Stimmungsschwankungen. Seitdem ihre Mutter vor mehr als zehn Jahren verstorben war, hängte sich ihr Vater total an sie. Aber sie hatte doch auch ein Recht auf ein Privatleben. Zumal sie gemeinsam mit dem Vater das Gestüt leitete, verbrachte sie ohnehin zu viel Zeit mit Papa. Was Arianes Vater nicht wusste, war dass seine Tochter eine Facebookfreundschaft im Tessin hatte – Ernesto Trapezo. Bereits im Vorfeld hatte sie ihren Vater an einem Seniorenkulturprogramm angemeldet und mit ihm deshalb disputiert. „Wenn wir zusammen in den Urlaub fahren, machen wir auch alles gemeinsam!“ War die Devise des Vaters, Arianes Gegenkommentar lautet: „Wir arbeiten und leben zusammen, wir fahren gemeinsam an Veranstaltungen rund um die Pferdezucht. Bitte versteh‘ mich, Vater! Ich werde 50 Jahre alt und bin quasi Tag und Nacht mit dir zusammen, wenigstens im Urlaub möchte ich mich fühlen und nicht nur auf deine antiquierten Ideale beschränken.“
Nach ihrer Ankunft in Bellinzona mussten sie zügig umsteigen, um den Zug nach Locarno zu erwischen. Von Locarno nahmen sie den Bus nach Ascona und checkten im Hotel ein.
Diesen Restnachmittag, sowie den Abend wird Ariane mit ihrem Vater verbringen, aber bereits morgen wird sie Ernesto Trapezo treffen.
Muffig saß der Herr Papa, beim Frühstück, seiner Tochter gegenüber. Die Servicekräfte gaben sich alle Mühe und summten wie fleißige Bienen zwischen den Frühstücksgästen hin und her. Da konnte Arianes Vater gar nicht anders wie höflich sein.
Als der Papa sich der Seniorengruppe angeschlossen hatte, machte sich total nervös Ariane auf den Weg. Sie würde Ernesto um 13.00 Uhr auf der großen Burg in Bellinzona treffen. Es ist sehr schwül gewesen und bereits nach der Zugfahrt klebte Arianes Kleidung an ihrem Körper. Oben auf der Burg wartete Ernesto, er war groß und breit gebaut. Trotz seiner 50 Plus waren seine Locken voll und von schwarzer Farbe, seine Augen schimmerten blaugrün. Mit einer zaghaften Umarmung und einem lächelnden „Buongiorno“ begrüßten sich die Facebookfreunde. Dann besichtigten die beiden die Burganlage, lachten, quatschten und hielten dennoch Abstand, obwohl sie ihren eigenen Magnetismus spürten.
Der Abschied war lange und sie verabredeten sich für den nächsten Tag nach Brissago, eine Insel im Lago Maggiore vor Ascona.
lm Hotel erwartete Arianes Vater unruhig seine Tochter, gemeinsam aßen sie und Ariane erkundigte sich ausführlich bei ihrem Papa wie sein Tag gewesen ist.
„Brissago – eigentlich ein unpassender Name, Paradieso wäre besser.“ Dachte Ariane nachdem sie das Innere der Insel betrat.
Morgens hatte sie ihren Vater nach dem Frühstück abgewimmelt und lief eilig zum Hafen in Ascona. Es war bereits um 10.00 Uhr sehr schwül und sicherlich wird es heute noch ein Gewitter geben.
Ernesto wartete schon auf Ariane, er trug eine lange Jeans und festes Schuhwerk, sie hingegen einen Leinenrock und eine Bluse, sowie Flip-Flops. Die Bootsfahrt war sehr angenehm und nach einer viertel Stunde erreichten die beiden ihr Ziel.
Es war eine Insel der botanischen Vielfalt und die vielen Eidechsen sorgen für prähistorische Stimmung. „Sind wir im Jurassic Park?“ Fragte amüsiert Ariane und Ernesto alberte mit: „Ja und gleich musst du dich ducken, wegen der Flugsaurier und schnell rennen, damit der böse T-Rex dich nicht frisst.“
Der dunkle Bambuswald, in welchem schwer der Nebel hing, löste Halloweengefühle aus. Kinder tobten darin rum und neckten sich, da es wirklich gespenstisch gewesen ist.
Als eine Eidechse über Arianes Fuß huschte, schrie sie kurz erschreckt auf.
„Alles in Ordnung?“ Erkundigte sich Ernesto und Ariane klärte ihn über die Eidechse auf. Er lachte so laut, dass auch die Kids aufschauten. Kurz darauf sagte er: „Du bist süß. Du trainierst diese riesigen Pferde, aber bei der Berührung einer Eidechse erschrickst du?“ Ernesto machte einen Schritt auf sie zu und hauchte: „Hoffentlich erschrecke ich dich nicht? Denn ich will dich nun küssen!“ Völlig überrascht passierte dieser Kuss und dann folgte das Echo in Form einer schallenden Ohrfeige. Ernesto rieb sich sprachlos die Wange, aber ehe er fragen konnte „Warum“, küsste Ariane ihn feurig. Ernestos Hände drückten Ariane fester an sich und sie säuselte in sein Ohr: „Sorry, Ernesto. Es war nur mein Reflex. Seit Jahren habe ich niemanden mehr so nahe an mich ran gelassen und dann kommst du…“ „Mi Amore, das habe ich schon verstanden“, er löste sich aus der Umarmung und nahm sie an der Hand, „komm! Wenn wir länger in dem nebligen Bambuswald bleiben, werden wir krank. Außerdem möchte ich dich in der Sonne sehen.“
Sie erkundeten die Insel Brissago weiter und machten Scherze, keiner der Beiden verlor auch nur ein Wort über die Küsse. Nachmittags entlud sich ein heftiges Gewitter und Ariane entschied sich ein Zimmer in dem Schlosshotel auf der Insel zu gönnen. Ernesto schluckte hohl als er die Preise sah und wollte ablehnen, jedoch kam er gegen Ariane nicht an. Sie ließ die Rezeptionistin noch in Ascona in ihrem Hotel anrufen, damit Arianes Vater sich nicht sorgen musste.
Das Hotelzimmer war wie im Märchen und kaum dass der Page draußen war, meinte Ernesto gewissenhaft: „Natürlich zahle ich dir meinen Anteil retour!“ „Nein“, entgegnete Ariane, „du bist mein Gast und ich bin froh dich endlich kennen zu lernen. Du warst in den letzten Monaten meine Zuflucht, wenn ich am liebsten alle meine Anteile am Gestüt verkauft und Vater im Stich gelassen hätte. Unsere Telefonate, unsere Schreiberei, dies war mein haltender Anker. Ernesto, ich brauche dich!“ Ernesto verstand und lief auf sie zu: „Mia Madre und ich will dich, aber nicht als Geschäftsfrau, sondern wild und leidenschaftlich. Dich, meine Göttin, werde ich in den Olymp tragen!“
Es folgte ein leidenschaftlicher Nachmittag, der in einen Abend der Zärtlichkeiten mündete und wie sie so erschöpft und zufrieden beieinander lagen, sprachen sie zum ersten Mal über ihre Wünsche und nicht wie bisher in ihren Telefonaten über ihren Alltag und die Vergangenheit.
Die Nacht zauberte Wetterleuchten und dank des offenen Fensters blähten sich die Gardinen, sowie die Vorhänge des Himmelbettes. Wenn der Wind durch die Zimmer heulte, wusste keiner der auf dem Schlosshotel anwesenden Leute, ob es die Laute von Lust und Leidenschaft waren. Ineinander verharrend schliefen die zwei Liebenden bis der erste Sonnenstrahl ihre Haut berührte und der neue Tag begann.
Ernesto betrachtete die schlafende Venus neben sich und schnappte sich ein Zettelchen aus dem Notizbuch des Hotels, sowie den daneben liegenden Kugelschreiber und skizzierte Ariane.
Er wurde noch fertig, ehe sie die Augen aufschlug. Ariane reckelte sich zwischen den Laken hervor und blinzelte der Sonne und Ernesto entgegen: „Buongiorno, mi Amore.“ Er ging zu ihr ins Bett und gab ihr einen Kuss, dann meinte er: „Du hast mich vorher auf eine Idee gebracht, meine kleine Venus, wir fahren später zur Insel Bella und dort zeige ich dir dein Ebenbild.“
Nach einem ausgiebigen Frühstück im Bett und einem Besuch im Bad, verließen die beiden das Schlosshotel, sowie die Insel Brissago. Im Hafen von Ascona angekommen, führte Ernesto Ariane zum Parkplatz, wo er sein kleines Auto seit gestern stehen hatte und gemeinsam fuhr das Liebespaar nach Stresa und von dort aus nahmen sie das Schiff auf die Isola Bella. An diesem Tag ließ Ernesto es sich nicht nehmen alles zu zahlen, Ariane war dies nicht recht, da sie wusste dass er nicht zu den Großkapitalisten gehörte, dennoch wusste sie um seinen Stolz. Das Schloss und die Kunstwerke darin, sind von atemberaubender Ästhetik gewesen und im Grottengang sahen sie die „schlafende Venus“. „Du hast mich heute Morgen an sie erinnert.“ Meinte Ernesto hinter ihr stehend und gab ihr einen Kuss in den Nacken.
Der Nachmittag war sehr schön und ging rasch vorbei, zusammen fuhren sie zurück nach Ascona und verabschiedeten sich.
Arianes Vater wartete mit finsterem Blick in der Hotellobby und veranstaltete ein Donnerwetter, dass der Rezeptionist zu ihnen meinte, sie mögen Rücksicht auf die Gäste nehmen.
Später trafen sich Vater und Tochter zum gemeinsamen Abendessen und sprachen kein Wort mit einander.
Nachts, Ariane lag bereits im Bett, klingelte ihr Handy. Der Anrufer war Ernesto: „Ich muss dich sehen!“ „Wo bist du denn?“ Fragte müde Ariane und Ernesto antwortete: „Unten auf der Straße vor deinem Hotel.“ „Warte ich hole dich ab, damit der Nachtportier keine doofen Fragen stellt!“ Befahl Ariane. Sie zog sich rasch den Morgenrock über den Pyjama und rauschte aus dem Hotelzimmer, die Treppen rannte sie hinunter und mit pochendem Herzen gab sie dem Portier die Anweisung den Gast eintreten zu lassen. Nun hatte sie zwar Zeugen für ihre Affäre, aber dies war ihr egal.
„Wir sind wie Teenager, welche sich an den Eltern vorbeischleichen.“ Kicherte Ariane und die nächste Nacht war weniger wild, dafür harmonisch.
Am nächsten Morgen, Ernesto hatte nachts das Hotel auch wieder verlassen, verbrachte Ariane den Tag mit ihrem Vater und bereitete ihn darauf vor, dass nach dem Urlaub ein Mann nach Deutschland auf das Gestüt kommen wird. Ihr Vater war empört, er fühlte sich von seiner Tochter hintergangen. Ariane erklärte: „Vater, ich bin deine Tochter, aber ich habe ein eigenes Leben. Natürlich werde ich das Gestüt, meinen Beruf und meine Familie nicht aufgeben, aber den Menschen der mich blind versteht und begehrt, als Frau, hätte ich gerne um mich. Außerdem ist Ernesto Pferdepfleger und verlor nach dem Bankrott seines Arbeitgebers den Job, somit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ernesto bekommt bei uns einen Job und du hast eine glückliche Tochter.“
Und so kam es, vier Wochen später zog Ernesto aus der Sonnenstube der Schweiz ins kühlere Deutschland. Arianes Vater gewöhnte sich langsam an den Anblick seiner verliebten Tochter und innerhalb eines Jahres, wurde Ernesto zum Familienmitglied.
© Nicole Maier