Walpurgisnacht
Es war einmal, in der jüngeren Vergangenheit, am 30. April. An diesem Samstag hatte Lydia ihr langes Wochenende, sie war sehr froh darüber, denn samstags im kleinen Buchladen zu stehen war oft sehr fordernd. Da die Leute vermehrt an diesem Wochentag Zeit hatten sich durch das Angebot zu schmökern. Heute Nacht ist Beltane und da Lydia gläubige Wicca gewesen ist, wollte sie sich in Ruhe auf die Rituale konzentrieren.
Da es in dem kleinen Ort, in welchem Lydia lebte keinen Zirkel oder Coven gab, dem sie sich hätte anschließen können, galt sie als freifliegende Hexe.
Nun also war es später Nachmittag und draußen war es herrlich warm und sonnig. Beinahe hüpfend verließ sie ihre kleine Zweizimmerwohnung, geschwind nahm Lydia den Anstieg durch das Villenviertel zum Waldrand. Im Schützenwald angekommen verließ sie den offiziellen Weg, um auf dem Schädelberg das Waldheiligtum für die Rituale aufzusuchen. Das Waldheiligtum war einst eine keltische Fliehburg und dort oben war ein absolut anderes, besseres Feeling.
Lydia hatte den spiralförmigen Weg nach oben hinter sich gebracht und atmete erst einmal durch. Sie liebte zwar den Jubel, den Trubel und die Heiterkeit in der Stadt und unter den Menschen, aber genauso sehr brauchte sie die Abgeschiedenheit und Ruhe der Natur.
Nach Norden legte sie einen Bergkristall, nach Osten Blüten welche sie unterwegs sammelte, nach Süden entfachte Lydia die kleine Feuerstelle und nach Westen, dafür holte sie aus ihrer Umhängetasche ein kleines Schälchen und etwas Wasser aus der Trinkflasche, Wasser auf. Sie sang rituelle Worte und rief die Elementargeister an, dazu bewegte sie sich drehend. Die Schwingungen und Frequenzen änderten sich, die Vögel pfiffen anders und Lydia überkam dieses Gefühl von tiefem Frieden. Sie liebte diese Rituale und auch diese spürbare, beinahe greifbare Macht. Aber heute war etwas anderes als sonst. Es knackte. Vögel flogen auf.
„Bitte erschrecke dich nicht! Ich will dir nichts Böses.“ Sprach eine interessante Männerstimme, Lydia fragte spöttisch: „Aber umdrehen darf ich mich? Oder bist du ein sprechender Baum, da ich mich ja nicht erschrecken soll?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern wendete sich um, es verschlug ihr die Sprache. Dieser Mann war zwar ganz normal mit T-Shirt und Jeans bekleidet, aber von ihm ging eine einnehmende Kraft und Ausstrahlung aus. Faszinierend waren aber auch die strahlenden Bernsteinaugen – Luzifer!
„Okay, dich habe ich nicht herbeigerufen, was willst du, Luzifer?“ Sagte scharf Lydia und er antwortete sarkastisch: „Was will der Herr der Unterwelt wohl, deine Seele.“ Daraufhin lachte er schallend. Lydia löschte die Feuerstelle, in der Hoffnung, dass durch den unterbrochenen Bannkreis der Teufel verschwindet. Doch das tat er nicht. Er kam immer näher auf Lydia zu und für sie war er enorm anziehend, magisch. Seit Jahren versuchte sie sich dem Okkultismus zu entziehen, dabei interessierte sie das Dunkle, das Böse seit frühester Kindheit. „Lydia, es gibt kein Licht ohne Dunkelheit, es gibt kein Gut ohne Böse. Wie oft wurde dir in deinem Leben übel mitgespielt?“ „Zu oft und dennoch sehe ich immer das Gute in den Menschen.“ Gab sie Antwort. Luzifer wartete nicht länger, sondern küsste Lydia und sie ergab sich ihm. Als sich die beiden lösten, sagte er zu ihr, du bist stark und unbeugsam und lieber ziehst du in den Krieg als dich knechten zu lassen, darum schaue ich dir schon Jahre lang zu. Ich bin dein Wächter gewesen, du rufst zwar Hekate und viele andere an, aber immer wieder schweiften deine Gedanken zu mir ab. Ganz ohne mein zutun. Ich könnte dir so viel sagen, um dich zu überzeugen, aber ich schätze den freien Willen genau so sehr wie du es tust. Denke darüber nach!“
Wusch weg war Luzifer und etwas verdattert blieb Lydia zurück, sorgfältig sammelte sie ihre Utensilien wieder ein und lief gedankenverloren Heim. Ja, Luzifer hatte recht. Wie oft wurde sie, Lydia, benutzt und gebraucht und dennoch immer alleine im Kampf. Sie sah so viele verschiedene, vergangene Szenerien aus ihrem Leben… Ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Verzweiflung, ihren Schmerz und oft auch die Ohnmacht zu scheitern. Auch die Gefühle, welche sie bezwungen geglaubt hatte, die Wut, der Zorn und die Rache waren wieder present.
Daheim trank sie etwas und ließ sich ein warmes Bad ein. So hatte sie sich ihr persönliches Beltane nicht vorgestellt. Alleine schon, aber nicht traurig und mit alten Gefühlen konfrontiert. Lydia legte sich Mozarts Requiem auf und stieg in die Wanne. Wie sie so das Wasser und die Musik genoß, spürte sie dass jemand im gleichen Raum war. Ohne ihre Augen zu öffnen, sagte sie genervt: „Geh‘ Luzifer, es ist unfein eine Dame beim Bad zu stören!“ „Keine Sorge, ich störe dich nicht.“ War seine selbstgefällige Antwort und daraufhin begann er mit dem Schwamm ihre Schultern mit dem warmen Wasser zu bedecken. In Lydias Innerem tobte ein Gewissenskonflikt, sie wollte sich ihm widersetzen und zeitgleich hingeben. „Was tust du denn da?“ „Ich biete dir einen Deal an. Du lässt es zu, dass ich dir zu Diensten bin und du sollst Macht erhalten. Ich weiß wie sehr du Macht liebst.“ Antwortete Luzifer und Lydia stimmte gedanklich zu. Luzifer hob sie aus dem Wasser und trug sie in ihr Schlafzimmer, auf das Bett. Luzifer liebkoste jede Körperstelle, welche jemals Schmerz erfahren musste. Lydia gab sich ihm hin und sie genoss seine fachkundigen Aufmerksamkeiten. Selbst die wenigen Männer die Lydia bis dahin hatte, waren menschliche Enttäuschungen. Lacrimosa aus dem CD – Player war der musikalische Begleiter zum gemeinsamen Höhepunkt. Dieser Höhepunkt, den Luzifer und Lydia gemeinsam erfahren durften war tatsächlich ein kleiner Tod. So viel starb und wurde wiedergeboren. Diese Nacht wurde zum Balsam der beiden.
Am anderen Morgen, es war der erste Mai, schien die Sonne auf das Bett und Lydia sah, dass sie nicht träumte, Luzifer lag neben ihr. Sie stand auf und lief um das Bett, um sich seinen Rücken anzusehen. Sie erkannte die zwei langen Narben auf seinen Schulterblättern.
Luzifer bekam mit wie Lydia seine Wundmale bestaunte und forderte sie auf: „Lege dich zu mir und ich berichte dir von meinem Fall und davon wie ich wieder Leben bekommen habe.“
Lydia empfand nur Mitleid, sie hätte wohl wie er dereinst gehandelt. Alle seine Knochen waren gebrochen und seine Flügel mussten amputiert werden. „Die frühen Menschen, die nicht im Garten lebten und Lilith haben mich gepflegt und mir geholfen. Ich wiederum unterrichtete die Menschen, dass sie in ihrem Handeln und Denken frei sind und sich niemandem beugen müssen. Du bist genau so rebellisch wie ich und ich habe jemanden wie dich vermisst.“ Lydia meinte dazu: „Deine Gefährtin ist doch aber Lilith. Wozu brauchst du mich?“ Luzifer klärte Lydia auf: „Lydia, du bist Lilith und ich wünsche mir, dass du retour kommst in unser Reich. Du lebst zu lange schon unter den Menschen und was geben sie dir außer Fußtritten? Mit dem nächsten Kuss schenke ich dir alle deine vergessenen Erinnerungen.“
Und so geschah es, Luzifer küsste Lydia /Lilith und sie war überwältigt von den Erinnerungen. Weinend setzte sie sich im Bett und aus Luzifers Armen auf. Sie war und ist Lilith. Die erste Frau Adams, welche rebellierte und nicht der Untertan ihres Gefährten, sondern ebenbürtig sein wollte. Sie war die die an Gott zweifelte und seine Gesetze hinterfragte.
Dann sah sie wie mit Spitzengeschwindigkeit ein Mann mit Flügeln aus dem Himmel auf die Erde stürzte. Sie, Lydia oder Lilith, erinnerte sich an die alten Hochkulturen und wie schlecht die Menschen immer schon mit sich umgegangen sind. Tränen rannen aus ihren Augen. Luzifer setzte sich auf und nahm sie in seine Arme, dann sprach er zu ihr: „Ich werde uns nun Frühstück machen und später nutzen wir, als Menschen den sonnenerfüllten Tag.“
So taten Luzifer und Lilith es, das infernale Liebespaar genoss den 1. Mai. Als abends Luzifer Lydia /Lilith in sein Reich nehmen wollte, bat sie ihn bis Samhain auf der Erde bleiben zu dürfen und Luzifer stimmte zu.
Mit Freuden stieg Lilith am 31.10. die Stufen zur Hölle hinab und vereint prüfen der Fürst und die Fürstin der Unterwelt die Seelen auf Demut und Lauterkeit.
©Nicole Maier